Agentic Commerce: Vision und Wirklichkeit
Im Lauf des Jahres 2025 ist der anhaltende KI-Hype, der auch den Bereich E-Commerce in Atem hält, in die nächste Runde gegangen: Aktuell drehen sich weite Teile der Diskussion um das Thema Agentic Commerce. Im Rahmen unseres Themenschwerpunkts „KI im E-Commerce“ fassen wir zusammen, was Agentic Commerce einmal sein soll, was daran – noch – reine Spekulation ist und inwieweit die praktischen Voraussetzungen für den vielfach ausgerufenen Paradigmenwechsel im Onlinehandel bereits jetzt geschaffen werden.
Aufbruch in eine neue Ära?
Ein aktueller Report von McKinsey stellt fest, dass mit dem Aufkommen des Agentic Commerce derzeit eine neue Ära anbricht. Für den weltweiten Handel wird darin bereits in fünf Jahren ein Volumen von drei bis fünf Billionen für den Agentic Commerce prognostiziert. Dreizehnstellige Zahlen wirken zunächst einmal gigantisch. Aber hier handelt es sich um spekulative Prognosen, die bekanntlich auch weit daneben gehen können.
In diesem Beitrag wollen wir uns nicht an den krudesten Trends und steilsten Thesen orientieren, sondern die Thematik eher ein Stück weit auf den Boden zurückholen. Leiten lassen haben wir uns dabei von der zweiteiligen Frage: Was passiert jetzt schon? Und was wird – und kann – realistisch betrachtet noch kommen?
Wer Visionen hat, muss (schon bald) nicht mehr selbst einkaufen?
Der Begriff ‚Agentic Commerce‘ ist nicht aus der Beobachtung eines Phänomens entstanden, sondern als Bezeichnung einer Vision. Der Ausdruck benennt also etwas, das es noch nicht gibt, nämlich „eine Zukunft, in der KI-Agenten Produkte für Kunden entdecken, vergleichen und kaufen“, wie Agentic Commerce in einem Beitrag im Shopware Blog von Oktober 2025 auf den Punkt gebracht wird. Und im deutschsprachigen Bereich ist die shopware AG – nicht zuletzt in Person eines ihrer Gründer und Geschäftsführer Stefan Hamann – ein wichtiger Player, wenn es um das Thema Agentic Commerce geht.
In einem wenige Tage später erschienen Beitrag schrieb Stefan weiter, dass der E-Commerce im Zeichen von künstlicher Intelligenz einem grundlegenden Wandel unterzogen wird und dank Large-Language-Models (LLM) wie ChatGPT „der klassische Onlinekauf seine Schritt-für-Schritt-Logik verliert“.
Das klingt interessant, möglicherweise sogar beunruhigend. Aber wie genau meint er das? Eigentlich ganz einfach: Ein KI-Modell, so die mittlerweile experimentell bestätigte Vision, das zielgenaue Produktsuche beherrscht und auch über integrierte Payment-Möglichkeiten verfügt, „kann einen Kaufvorgang – vom ersten Suchbegriff bis zur bezahlten Rechnung – in etwa einer halben Sekunde durchlaufen“.
Dass so etwas rein technisch gesehen bereits jetzt grundsätzlich möglich ist, wird kaum jemanden mehr wirklich überraschen. Aber werden sich schon bald die Shopbetreiber die Augen reiben, weil plötzlich immer mehr KI-Agenten in Sekundenbruchteilen Online-Käufe erledigen – und immer weniger Menschen? Wandelt sich das Online-Kaufverhalten jetzt wirklich grundlegend – und wenn ja: wie schnell geht das?
Ist Agentic Commerce wirklich die Zukunft?
Auch mit viel Offenheit für überraschende Entwicklungen erscheint das an KI-Agenten ausgelagerte, vollautomatisierte Einkaufen in vielen Lebensbereichen nüchtern betrachtet ziemlich weltfremd. Wie viele Menschen werden 2030 oder 2035 tatsächlich per Prompt und ohne eigene Auswahl der Produkte online Mode, ein neues Smartphone oder vielleicht sogar ein Auto kaufen? Vermutlich fast niemand. Wird bis dahin eventuell der eine oder die andere gleich die gesamte Urlaubsplanung mit allen Buchungen an ChatGPT delegieren? Eventuell. (Aber – je nach Ergebnis – danach vielleicht auch nie wieder?)
Offenbar sollte hier nicht alles so heiß gegessen werden, wie es hier und da gekocht wird. Aber das heißt keineswegs, dass die Diskussion um Agentic Commerce pure Schaumschlägerei wäre. Immerhin gibt es durchaus realistische Szenarien, in denen sehr viele Menschen gern darauf verzichten würden, mühsam Anbieter, Produkte, Preise, Versandkonditionen, Retourenregelungen und die Bedingungen für die jeweilige Händlergarantie vergleichen zu müssen. Der Kauf von standardisierten Produkten und Verbrauchsartikeln, die immer wieder mal nachbestellt werden müssen, lässt sich vermutlich schon sehr bald ohne unangenehme Überraschungen an KI-Agenten abgeben. Und dadurch dürfte sich ganz besonders im Bereich B2B schon in absehbarer Zeit sehr viel verändern.
Es werden Fakten geschaffen
Aufseiten der Anbieter von Plattformen für Shopping und Payment ist bereits jetzt regsame Geschäftigkeit erkennbar. Inzwischen wird bereits von zahlreichen Akteuren fleißig daran gearbeitet, dass sich mit dem Buzzword ‚Agentic Commerce‘ schon heute mehr verbindet als visionäre Zukunftsmusik. Während die ganz großen Pflöcke wie üblich von den großen US-Tech-Unternehmen eingeschlagen werden, bewegt sich auch hier in Europa bereits allerhand in Richtung Agentic Commerce. Eine kurze Bestandsaufnahme in Stichpunkten:
- Agentic Commerce Alliance
Unter dem Dach der im Sommer von Shopware initiierten Agentic Commerce Alliance (ACA) schließen sich Softwarehersteller, Forschende und Shopbetreiber zusammen, um eine solide Basis für offenen Agentic Commerce zu bilden: geteilte Standards, interoperable Agenten und Datensouveränität für Händler. - Agentic Commerce Protocol (ACP)
Open AI und Stripe haben das Agentic Commerce Protocol als Open Source bereitgestellt. Das ACP funktioniert plattformunabhängig und ermöglicht es Shopbetreibern, in den Handel mit KI-Agenten einzusteigen, während Sicherheit und Interoperabilität gewährleistet bleiben. Das hat den Entwicklungen im Bereich Agentic Commerce einen erheblichen Schub gegeben. - Instant Checkout in ChatGPT
Bereits Ende September 2025 gaben Open AI und Stripe bekannt, dass in ChatGPT jetzt die gemeinsam auf der Grundlage des ACP entwickelte Funktion „Instant Checkout“ zur Verfügung steht. Damit ist es möglich, direkt im Chat einzukaufen, ohne dafür durch den jeweiligen Shop zu navigieren. Für mit Instant Checkout abgeschlossene Käufe müssen Onlinehändler „eine kleine Gebühr“ bezahlen, wie es heißt. - Implementierung in Shopware
Nur zwei Tage später veröffentlichte Stefan Hamann die Implementierung des ACP für Shopware auf GitHub. - Implementierung in Shopify
Die boomende E-Commerce-Plattform Shopify bietet laut Dokumentation (derzeit noch im Early-access) bereits Agentic-Commerce-Features an, die auf dem ACP basieren. - Implementierung in Magento 2 und WooCommerce
Schnell war auch für Magento und WooCommerce ein passender ACP Connector auf dem Markt. - PayPal Agentic Commerce Services
Bereits beim Shopware Community Day 2025 Mitte September wurde angeteasert, dass Shopware Teil der von PayPal entwickelten Agentic Commerce Plattform sein würde. Auch PayPal baut auf das von Open AI bereitgestellte ACP um seine inzwischen offiziell vorgestellten Agentic Commerce Services mit praktischen Tools für Händler zum Anbieten ihrer Produkte über Chat GPT und andere KI-gestützte Plattformen und das sichere Entgegennehmen von Zahlungen, die von KI-Agents getätigt werden.
Es werden also allenthalben Fakten zur Errichtung einer technischen Grundlage für die Abwicklung von autonomen Käufen geschaffen. Gleichwohl: Dass schon zu Weihnachten 2026 massenhaft Geschenke von autonomen Agenten besorgt werden, ist wenig wahrscheinlich. Dass KI-Systeme eine immer größere Rolle für die Suche nach Produkten und Händlern spielen werden, darf allerdings als sicher gelten. Und dass aktuell die Gefahr besteht, von einer sehr wichtigen Entwicklung abgekoppelt zu werden, auch – insbesondere im Bereich B2B.
Was sollten Shopbetreiber jetzt tun?
Für Lari Hämäläinen von McKinsey ist klar: „Um im Zeitalter des autonomen E-Commerce erfolgreich zu sein, müssen Unternehmen jetzt handeln, da KI bereits die Art und Weise verändert, wie wir interagieren. Investitionen in eine agententaugliche Infrastruktur – einschließlich APIs, Dateninteroperabilität, Trust-Frameworks und Governance – sind unabdingbar, um in einem sich rasant entwickelnden Umfeld wettbewerbsfähig zu bleiben“. Das klingt ziemlich anspruchsvoll. Aber was genau sollten Shopbetreiber jetzt konkret tun?
Payment
Während autonomes Einkaufen und Bezahlen in vielen Branchen vorerst keine nennenswerte Rolle spielen dürfte, weil Menschen nicht einfach KI entscheiden lassen werden, was sie anziehen oder über welches Gerät sie in den nächsten Jahren kommunizieren. Aber wer beispielsweise Produkte im Sortiment hat, die potenziell periodisch nachbestellt werden (Toner, aber auch Kaffee oder Kosmetik), muss den eigenen Shop jetzt für Agentic Commerce flottmachen. Und das gilt ganz besonders im B2B.
Security
Mit KI-Systemen, die autonom bezahlen, sind auch ganz neue Herausforderungen und Fragen verbunden: Wie lässt sich ein sicherer Zahlungsverkehr gewährleisten? Hier stehen die Zeichen derzeit auf Tokenisierung, also nur einmal verwendbare Zahlungsdaten. Aber welche neuen Haftungsrisiken und damit verbundenen Rechtsfragen entstehen, wenn KI-Systeme Fehlkäufe tätigen? Und was ist eigentlich mit dem Thema Datenschutz? Hier gilt es, die weiteren Entwicklungen sehr genau zu beobachten.
Vertrauen
Wichtig ist: Händler dürfen beim Thema Agentic Commerce nicht nur die eigene Sichtbarkeit im Blick haben. Es kommt auch – und gewissermaßen sogar in erster Linie – auf die Sicherheit der anderen an. Denn in Zeiten von gestohlenen Kreditkartendaten und Fake-Shops sind vertrauensbildende Maßnahmen ausgesprochen wichtig. Kunden wollen online zwar schnell bestellen und keine überhöhten Preise bezahlen; ihr besonderes Augenmerk liegt dabei aber auf der Sicherheit des Ganzen.
In Zukunft allerdings wird es für einen erfolgreichen Onlineshop nicht mehr genügen, aus der Sicht von Menschen vertrauenswürdig zu wirken. Nun kommt es darauf an, Trust-Signale zu senden, die auch KI-Systeme eindeutig erkennen und einordnen können. Andernfalls würden Chatbots die Produkte des Shops wohl kaum in ihre Empfehlungen aufnehmen, insbesondere wenn der Prompt „vertrauenswürdige“ oder „sichere“ Händler verlangt.
Sichtbarkeit
Bislang waren Rankings in Suchmaschinen der zentrale Faktor für die Sichtbarkeit von Onlineshops. Die Suchmaschinenoptimierung (SEO) von Seiten, Texten, Bildern und technischer Infrastruktur zur Verbesserung der Sichtbarkeit ist seit jeher ein integraler Bestandteil des Online-Marketings. Aber was ist, wenn Menschen gar nicht mehr durch Anfragen in Suchmaschinen recherchieren, sondern direkt mit KI-Bots chatten? Wie werden die Produkte eines Shops in KI-Systemen sichtbar? In diesem Zusammenhang macht derzeit das Schlüsselwort „Maschinenlesbarkeit“ die Runde.
Ist Maschinenlesbarkeit die neue Sichtbarkeit? Was genau müssen Händler tun, damit die Seiten ihres Shops von KI-Crawlern als relevant erfasst, verarbeitet und empfohlen werden? Ist SEO Schnee von gestern, weil es jetzt nur mehr auf Generative Engine Optimization (GEO) ankommt? Oder sind beide am Ende gar nicht so weit voneinander entfernt und gehen sogar ein Stück weit Hand in Hand?
Diesen und weiteren Fragen rund um das Thema GEO werden wir uns schon bald widmen – und zwar in unserem nächsten Beitrag zum Themenschwerpunkt „KI im E-Commerce“.
Rückblick und Ausblick: Noch mehr KI im E-Commerce
Den Themenschwerpunkt „KI im E-Commerce“ leuchten wir in einer Reihe von Beiträgen aus. Zuletzt haben wir uns genauer angesehen, welche praxiserprobten KI-Features für Personalisierung und Suche in Onlineshops es bereits gibt. Und nach unserem Blick auf Agentic Commerce werden wir uns im nächsten Beitrag dem Themenfeld Generative Engine Optimization (GEO) widmen.
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